Bedeutet frühkindliche Bildung ein vorzeitiges Abitur oder Stärkung von Wissbegier? Mit dieser Frage beschäftigt sich Herr Dr. Claus Stieve in seinem Vortrag und in der anschließenden Diskussionsrunde am Goethe-Institut Prag am 15. April im Rahmen der Veranstaltungsreihe FORUM ERZIEHUNG. Herr Dr. Claus Stieve arbeitet als Vertretungsprofessor für Pädagogik der Kindheit und Familienbildung an der Fachhochschule Köln. Das Thema seines Vortrags ist auch für Sprachlehrer interessant. Aus diesem Grunde stellten wir Herrn Dr. Stieve noch einige weitere Fragen. Lesen Sie seine Antworten darauf.
Doc. Milada Rabušicová und Dr. Claus Stieve (Foto Goethe Institut Prag)
Herr Stieve, würden Sie uns bitte sagen, wie es also richtig ist? Geht es um ein Babyabitur oder die Stärkung Wissbegier?
Nein natürlich geht es bei der Förderung von Kindern nicht um ein Babyabitur. Im Gegenteil. Bildung wird allzu häufig mit Leistungsdruck verbunden, dabei wollen Kinder von sich aus lernen. Zuallererst kommt es darauf an zu erkennen, dass Kinder sich nicht nur dann bilden, wenn Erwachsene ihnen etwas repräsentieren und sie “unterrichten”. Kinder bilden sich selbst, sie suchen und finden in ihrer Lebenswelt viele Dinge, Orte, Beziehungen und Ereignisse, die sie neugierig machen und mit denen sie sich auf ihre eigene Weise auseinandersetzen. Hier muss Pädagogik ansetzen. Es kommt zuerst darauf an, differenziert wahrzunehmen, was Kinder selbst tun. Dass Kinder wissbegierig sind, heißt dass wir mit ihnen in einen Dialog über ihre Deutungen und die Deutungen der Erwachsenen treten. Der Pädagoge Célestin Freinet hat dafür einmal die schöne Formel benutzt: “Dem Kind das Wort geben” – dem Kind zu helfen, zu seiner Sprache zu kommen, zu seiner Kommunikation mit den Menschen und Dingen seiner Umgebung.
Die Meinungen zum Thema Sprachenlernen und Kinder sind verschieden. Sollten die Kleinsten Fremdsprachen lernen? Was, meinen Sie, ist spezifisch für diese Lerner-Gruppe? Was ist anders als bei Erwachsenen?
Wenn ein Kind eine Sprache lernt, geht es ja nicht in erster Linie darum, ein scheinbar fertiges Sprachsystem inklusive Grammatik und Wortschatz als eine Kompetenz zu erwerben, die man dann wie einen Gegenstand besitzt. Sprache lernen heißt, “ zur Sprache zu kommen”, sich selbst ausdrücken können und es heißt Teilhabe, Partizipation in seiner Lebenswelt. Kinder verfügen über sehr unterschiedliche Formen von Sprache. Die Gestik, das Zeigen und die Aufforderungen, das heißt das ganze leibliche Ausdrucksvermögen des Kleinkindes sind eine erste nonverbale Sprache. Die ersten Sätze von Kindern haben eine andere Grammatik als die des Erwachsenen. Wenn Kinder sprechen, dann kreieren sie ständig neue Wörter. Indem Kinder aufgreifen, was sie von den Erwachsenen hören, sind sie gleichzeitig schöpferisch und schaffen neue Worte, wie Roman Jakobson, der ja auch hier in Prag lehrte, einmal hervorhob.
Wir sollten Kindern deshalb ermöglichen, sich in vielfältiger Weise lustvoll und neugierig mit Sprache zu befassen, dazu gehört auch das Erlernen fremder Sprachen oder die Erfahrung von Schrift. Allerdings sollten wir auch hier an der Lebenswelt von Kindern anknüpfen. Sprache lernen Kinder im Alltag, durch ihre Freundschaften mit Gleichaltrigen oder durch Eltern und Erzieherinnen und Erzieher, die mit ihnen ständig im Gespräch sind. So kann es auch mit fremden Sprachen sein. In mancher Einrichtung in Deutschland wird Englisch als Kursangebot von externen Anbietern eingekauft, aber die Vielsprachigkeit der eigenen Einrichtung übersehen. Wichtig erscheint mir, dass wir diese Vielsprachigkeit aufnehmen, in den Alltag integrieren, fremdsprachige Erzieherinnen und Erzieher einstellen. So kann der Alltag der Einrichtungen verschiedene Sprache und, darauf kommt es besonders an, die mit ihnen zusammenhängenden Kulturen lebendig werden lassen.
Worauf sollten Lehrer, die die kleinsten Kinder unterrichten, unbedingt achten? Dürfen wir Sie um einige Tipps bitten, die die Lehrer im Unterricht anwenden können?
Dazu möchte ich eine kleine Geschichte von einem türkischen Jungen in einem deutschen Kindergarten erzählen. Er hatte nach einem Jahr noch nicht begonnen, deutsch zu sprechen, sondern verhielt sich in der Gruppe ganz still und schien auch sonst den anderen Kindern in der Entwicklung hinterher zu hinken. Ab und zu puzzelte jemand mit diesem Jungen, denn, obwohl ihm das Puzzeln sehr schwer fiel, mochte er Puzzle sehr gerne. Dabei übte der Erzieher, differenziert zu beobachten, was der Junge beim Puzzeln beherrschte und er kleine Anregungen benötigte, die nur sein eigenes Tun unterstützten. Er ermöglichte dem Jungen, alles selbst zu tun, was er konnte, und von dort ausgehend auszuprobieren, was er noch nicht beherrschte. Das Puzzlespiel war eine Art Dialog zwischen Jungen und Erzieher, bei dem es nicht um Leistung ging, sondern um die Lust am Puzzeln und das Sich-Selbst-Ausprobieren. In diesem Zusammenhang begann der Junge ganz plötzlich und unerwartet erste deutsche Worte zu benutzen und in seiner wie in der deutschen Sprache zu erzählen. Explizit stand die Sprache nicht im Vordergrund, aber die Beziehung, die Sensibilität für ihn, führte den Jungen dazu, sich sprachlich auszudrücken.
Mir gefällt deshalb das deutsche Wort “Unterrichten” nicht. Es geht immer davon aus, dass das Kind defizitär ist. Es weiß, es kann oder es hat etwas noch nicht das, was ihm der Erwachsene vermittelt. Das Lernen wird von seinem Ziel her definiert.
Es ist aber ebenso wichtig, Lernen von seiner Herkunft her zu verstehen. Meines Erachtens kommt es auch darauf an, das Kind zunächst in seinem eigenen Ausdrucksvermögen verstehen zu lernen. In verschiedenen Ländern wurden in den letzten Jahren offene Methoden zur Beobachtung der vom Kind ausgehenden Bildungsprozesse entwickelt, z. B. die Learning Storys in Neuseeland oder die Projektdokumentationen in Reggio Emilia. Ich meine, dass in diesen Methoden gute Ansätze liegen, damit wir mit Kindern in Dialog treten und sie nicht zu Objekten einer an festen Lernzielen orientierten Didaktik machen. Das heißt nicht, dass wir ihnen nicht auch Themen “zumuten”, wie der Frühpädagoge, H. J. Laewen es nennt. Es geht aber immer darum, dies im Dialog mit dem zutun, was und wie Kinder ihre Lebenswelt beschäftigt. Celestin Freinet nannte es einmal: “Auf die Kräfte des Kindes vertrauen”
Was verstehen Sie genau unter dem Begriff “Schaffen eines bildungsintensiven Umfelds”?
Im Schaffen und Aufspüren einer bildungsanregenden Umgebung liegt für mich ein Schlüssel in der Stärkung kindlicher Bildungsprozesse.
Erstens glaube ich, dass es ein wichtiges Ziel ist, dass Kinder stabile aber auch unterschiedliche Bindungen, also emotional vertraute Beziehungen zu Erwachsenen erfahren, dass sie ein Beziehungsnetz haben. Diese Beziehungen geben ihnen eine Sicherheit, aus der heraus sie sich neugierig aufmachen können, ihre Umgebung zu erkunden. Dafür ist es wichtig, dass die Familienwelt und die institutionelle Welt wie Schule und Kindergarten fließender ineinander übergehen.
Zum zweiten sollten wir Kinder vielfältige Möglichkeiten zum Ausleben ihres Spiel- und Entdeckerdrangs geben, ihnen etwas zutrauen, z. B. sportliche Bewegungsmöglichkeiten in einer Kindertagesstätte zu jeder Zeit und an vielen Orten und nicht nur innerhalb fester Angeboten, oder eine Werkstatt mit Hämmern und Sägen. Ebenso wichtig sind reichhaltige Materialien, die Kinder frei benutzen dürfen. Oft sind Alltagsgegenstände, “Zeug zum Spielen” besser als Spielzeug. Schließlich benötigen Kinder die Möglichkeit, ihre Peer-Group zu erfahren, das heißt auch ohne Aufsicht in kleinen Gruppen zu spielen.
Drittens bedeutet eine bildungsanregende Umfeld, dass sich die Erwachsenen miteinander vernetzen. Bildung ist durch viele Faktoren bestimmt. So lernen Kinder, wenn man es zulässt, an unterschiedlichsten Orten und nicht nur in Institutionen, z. B. im Wald, auf der Straße, im Treppenhaus, durch Medien, bei Angeboten von Vereinen. Zudem gibt es viele Faktoren, die Bildungsprozesse von Kindern erschweren, seien es Gesundheit und Ernährung, Armut, Belastungen der Eltern. Mangelnde Bildung ist zumeist kein individuelles sondern ein systemisches Problem. Die Lebenssituation eines einzelnen Kindes wird von den Institutionen und Diensten, die mit ihm arbeiten oft nur ausschnittweise wahrgenommen. Es kommt darauf an, dass pädagogische Einrichtungen wie Kitas und Schulen, Kinderärzte, Familienbildungseinrichtungen eng zusammenarbeiten, und mit Eltern und Kindern gemeinsam, deren Lebenswelt in den Blick nehmen. Unabdingbar ist hierfür ein Bewusstsein der politischen Entscheidungsträger, um solche Prozesse zu steuern. Early Excellence in England oder das Projekt Kind & Ko der Bertelsmann Stiftung in Deutschland sind Beispiele hierfür.
Danke sehr für das Gespräch.