Frau Prof. Dr. C. Riehl: Mehrsprachigkeit und Sprachenlernen

Am 03.06.2010  hielt Frau Prof. Dr. Claudia Maria Riehl ihre Vorlesung zu oben genanntem Thema im Goethe Institut in Prag.  In diesem Vortrag wollte sie neue Erkenntnisse der Hirnforschung vorstellen, die zeigen, wie mehrere Sprachen im Gehirn miteinander vernetzt sind und dabei die Vorteile des frühen Sprachenlernens und der frühen Mehrsprachigke­it
aufzeigen. Im Anschluss daran wurde überlegt, welche Konsequenzen sich daraus
für den Fremdsprachenun­terricht ergeben und wie man diese Erkenntnisse speziell
für den Deutschunterricht gewinnbringend nutzen kann. Die Referentin, Frau Prof. Dr. C. Riehl, lehrt Sprachwissenschaft (Forschungsschwer­punkte: Mehrsprachigke­itsdidaktik, Kulturspezifik von Texten, Minderheitensprachen, Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit) am Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Universität Köln; sie unterrichtete auch an der Karlsuniversität Prag. Zu der Angelegenheit von ihrem Prager Vortrag möchten wir auch diese ohne Zweifel interessanten Gedanken an unser Lesepublikum übermitteln. Darum haben wir Frau Prof. Riehl um ein Gespräch gebeten.

Frau Professorin, wie ist es also mit den neuen Erkenntnissen der Hirnforschung? Könnten Sie uns sagen, was sie konkret zeigen? Ich sehe sehr klar die Fähigkeit, alles ohne größere Probleme wahrzunehmen, bei meinem drei-jährigen Sohn. Er vernetzt die englischen Begriffe aus den von ihm gesehenen englischgesproche­nen Märchen mit den tschechischen Begriffen relativ sehr gut. Was noch kann so ein kleines Gehirn?

Sog. bildgegebende Verfahren in der Hirnforschung zeigen, dass sich bei früh mit zwei Sprachen Aufgewachsenen die beiden Sprachen im Sprachzentrum des Gehirn (sog. Broca-Areal) weitgehend überlappen und auch kompakter repräsentiert sind. Bei Spät-Mehrsprachigen überlappen sich die Aktivierungen dagegen nur teilweise. In der Neurolinguistik erklärt man das so, dass Strukturen in bestimmten, für spezifische Zwecke reservierten Arealen im Gehirn, die in früher Kindheit angelegt wurden, ab einem gewissen kritischen Alter nicht mehr modifiziert werden können. Man muss dann benachbarte Areale nutzen. Deswegen können nur frühe Mehrsprachige, die die zweite Sprache noch vor diesem kritischen Alter (von etwa 6 Jahren) erworben haben, das gleiche Areal für ihre Sprachen verwenden.
Unterschiede zeigen sich auch bei der Prozessierung weiterer Sprachen: Bei früh mit zwei Sprachen Aufgewachsenen wird bei der Produktion einer dritten Sprache auf weniger neuronales Substrat im Broca-Areal zurückgegriffen. Insgesamt überlappen sich die drei Sprachen hier weitgehend. Wenn Spät-Mehrsprachige ihre Drittsprache produzieren, müssen sie dagegen mehr neuronales Substrat aktivieren.

Bei uns realisiert man jetzt die Reform des Schulwesens und damit ist auch die Notwendigkeit verbunden, damit die Kinder möglichst bald eine Fremdsprache lernen, am besten ab der ersten Klasse. Sind Ihre Forschungserken­ntnisse auch hier zu applizieren oder beziehen sie sich nur auf die kleinsten Kinder?

Insgesamt ist zu sagen: Je früher desto besser. Wie ich bereits erwähnte, ist das kritische Alter bei 6 Jahren. Das würde dafür sprechen, dass man mit dem Sprachenlernen bereits im Kindergarten beginnt. Allerdings gibt es auch Studien, die zeigen, dass beim Lernen einer Fremdsprache die graue Materie in einer bestimmten Hirnregion zunimmt und zwar abhängig von Alter und Kompetenz. Und hier zeigt sich noch ein sehr hoher Zuwachs bis zum Alter von 10 Jahren.

Befassen Sie sich auch mit solchem Fall, wenn das Kind in einer bilingualen Familie lebt? In solcher Familie, wo der Vater z. B. aus Deutschland kommt und die Mutter aus Frankreich…? Man sagt, zwei Sprachen können ein zweimal stärkeres Identitätsgefühl bedeuten. Man sagt auch, ein bilinguales Kind kann keine Identität haben, weil es für die einen „das andere“ ist und umgekehrt. Können Sie sagen, was Sie davon halten?

Ich arbeite sehr viel mit bilingualen Menschen. Und die haben natürlich eine Identität, die sie als etwas Zusammengesetztes aus beiden Herkunftsländern betrachten, z.B. Deutschaustralier. Es gibt sogar Jugendliche, die ihre Identität darin sehen, ‚bilingual’ zu sein. In Interviews mit Jugendlichen kam dabei immer wieder heraus, dass sie es als etwas Positives ansehen, zwei Kulturen gleichzeitig anzugehören. Allerdings muss dies natürlich durch das Elternhaus und die Umgebungsgese­llschaft bestärkt werden. Es gibt leider bestimmte Migrantensprachen, die ein sehr niedriges Prestige in der Gesellschaft besitzen und das hat auch Auswirkungen für die Kinder.

Sie besuchten viele Länder, sowie Afrika und Australien. Gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Kontinenten oder Kulturen? Oder haben die Kinder „denselben Gehirn“?

Es gibt keine Unterschiede. Die Untersuchungen wurden mit vielen verschiedenen Sprachpaaren. Und da wurden keine Unterschiede in der Speicherung festgestellt, ob die Sprachen nun nahe oder gar nicht miteinander verwandt waren.

In Tschechien ist es auch immer mehr trendy (und ich finde es ganz richtig) die kleinsten Kinder im Kindergarten zu unterrichten. Könnten Sie uns vielleicht eine effiziente Lernmethode verraten, wie man die Kinder unterrichten sollte? Mit welchen didaktischen Methoden sollte man arbeiten?

Kinder lernen anders als Erwachsene, also implizit. Das bedeutet, dass sie Sprachen personen- und situationsbezogen lernen. Deswegen gilt das Prinzip „Eine Person – eine Sprache.“ Ganz wichtig ist in diesem Fall die Interaktion, d.h. das Lernen der Sprache gleichzeitig mit einer Tätigkeit, also beispielsweise Teekochen, Einkaufen etc.
Könnten Sie uns Literatur oder Studienquellen empfehlen, die sich mit diesem Thema befassen, die potentionellen Interessenten zur Verfügung stehen oder die eine neue Inspiration Lehrern und Lektoren zeigen können?
Wir stellen in Kürze auf der Homepage unseres Zentrums ‚Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit’ (www.zsm.uni-koeln.de) Literaturhinweise zur Verfügung.

Danke bestens für Ihre Zeit und für das Gespräch.